Die Zukunft der deutschen Gasnetze

Stilllegung von Gasnetzen als Handlungsoption für Netzbetreiber?

Peter Schmidt
Von:
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Jahrzehntelang galt Erdgas in Deutschland als Rückgrat der Energieversorgung. Noch im Jahr 2022 lag der Anteil von Erdgas an der deutschen Primärenergieversorgung bei ca. 24 Prozent, was Erdgas zum zweitwichtigsten Energieträger in Deutschland (hinter dem Mineralöl) gemacht hat. Das „Geschäft mit dem Gas“ war dementsprechend lange Jahre ein lukratives und verlässliches Geschäftsmodell. Nunmehr befindet sich die Energieversorgung in Deutschland – insbesondere die Versorgung mit Erdgas – spürbar in einem Umbruch. Geopolitische Erschütterungen, insbesondere der Krieg gegen die Ukraine und die damit einhergegangene Versorgungsunterbrechung durch Russland, haben die Fragilität des Gasmarktes mit all ihren Begleiterscheinungen (wie etwa Preisexplosionen, Versorgungsengpässe und (ungewollte) politischen Abhängigkeiten) offengelegt. Vor dem Hintergrund der politischen Zielsetzung der Klimaneutralität bis zum Jahr 2045 stellt sich zugleich auch die Frage, welche Rolle die deutschen Gasnetze in Zukunft noch spielen können – oder dürfen. Nicht wenige Netzbetreiber sehen perspektivisch keine Zukunft mehr für ihre Gasnetze und denken bereits über deren (teilweise) Stilllegung nach. Aber: Ist das so ohne weiteres möglich?
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Die Möglichkeit der Stilllegung von Gasnetzen nach aktueller Rechtslage

Nach aktueller Rechtslage sind Netzbetreiber in Deutschland gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) grundsätzlich dazu verpflichtet, ein sicheres, zuverlässiges und leistungsfähiges Energieversorgungsnetz diskriminierungsfrei zu betreiben, zu warten und bedarfsgerecht zu optimieren, zu verstärken und auszubauen, jedenfalls soweit es für sie wirtschaftlich zumutbar ist. Gleichzeitig trifft die Netzbetreiber eine Netzanschlusspflicht.

Diese ergibt sich aus § 18 Abs. 1 S. 1 EnWG und besagt, dass Betreiber von Energieversorgungsnetzen für Gemeindegebiete, in denen sie Energieversorgungsnetze der allgemeinen Versorgung von Letztverbrauchern betreiben, grundsätzlich jedermann an ihr Energieversorgungsnetz anzuschließen und die Nutzung des Anschlusses zur Entnahme von Energie zu gestatten haben. Die Netzanschlusspflicht gilt nur dann nicht, wenn der Anschluss oder die Anschlussnutzung für den Betreiber des Energieversorgungsnetzes aus wirtschaftlichen Gründen nicht zumutbar ist (§ 18 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EnWG). Dementsprechend können auch bestehende Netzanschlussverträge zwischen einem Netzbetreiber und einem Anschlussnehmer nicht ohne Weiteres beendigt werden. Die Beendigung des Netzanschlussverhältnisses durch Kündigung setzt vielmehr nach § 25 Abs. 1 S. 2 der Niederdruckanschlussverordnung (NDAV) – in Einklang mit den Vorgaben des EnWG – voraus, dass eine Netzanschlusspflicht nach § 18 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EnWG nicht (mehr) besteht.

Stilllegung von Gasnetzen nur bei wirtschaftlicher Unzumutbarkeit

Die dargestellten Regelungen des EnWG und der NDAV zeigen, dass eine beliebige Stilllegung eines Gasnetzes für die Netzbetreiber nicht möglich ist. Die insoweit erforderliche Verweigerung von Netzanschlussbegehren und die Beendigung bestehender Netzanschlussverhältnisse ist den Netzbetreibern – wie bereits aufgezeigt – nur möglich, wenn ihnen der Netzanschluss wirtschaftlich nicht zumutbar ist. Der Begriff der wirtschaftlichen Unzumutbarkeit wird im Gesetz nicht näher bestimmt.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) ist die wirtschaftliche Unzumutbarkeit nach § 18 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EnWG anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Erforderlich ist eine Abwägung aller im Einzelfall relevanten Belange. In die Abwägung einzubeziehen sind unter Berücksichtigung der Ziele des § 1 EnWG und der Grundsätze der Elektrizitäts- und Erdgasbinnenmarkt-Richtlinien insbesondere die gegenläufigen Interessen des Netzbetreibers und des Anschlussnehmers. Dabei sind auf Seiten des Netzbetreibers unter anderem die Kosten für den Netzanschluss und Folgekosten wie etwa für einen Netzausbau, aber auch eine Erhöhung der Netzkosten durch schlechtere Kapazitätsnutzung zu berücksichtigen. Auf Seiten des Anschlussnehmers spielt vornehmlich eine Rolle, in welchem Maße er für den Energiebezug auf den konkret gewünschten Anschluss angewiesen ist, ob alternative Anschlussmöglichkeiten bestehen oder ob es ihm nur um eine Kostenreduzierung geht (siehe zu alldem BGH, Beschluss vom 23. Juni 2009, Aktenzeichen EnVR 48/08).

Die Rechtsprechung des BGH zeigt deutlich: Pauschale Einordnungen, ab wann eine wirtschaftliche Unzumutbarkeit für die Netzbetreiber besteht, verbieten sich. Stattdessen muss anhand des Einzelfalls entschieden werden. Dabei ist zu bedenken, dass die Rechtsprechung § 18 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EnWG als restriktiv auszulegende Ausnahmeregelung ansieht und die Hürde, den Anschluss eines Haushaltskunden als für den Netzbetreiber wirtschaftlich unzumutbar anzusehen, sehr hoch liegt (so das Oberlandesgericht Brandenburg, Urteil vom 17. Dezember 2019, Aktenzeichen 6 U 58/18). Nach aktueller Rechtslage wird die Stilllegung von Gasnetzen damit wohl nur in sehr begrenzten Ausnahmefällen möglich sein.  

Zukünftige Stilllegungsmöglichkeit aufgrund der Gasbinnenmarktrichtline  

Vor dem Hintergrund des politischen Ziels der Klimaneutralität bis 2045 und der damit einhergehenden Abkehr von fossilen Energieträgern, ist damit zu rechnen, dass sich die maßgeblichen rechtlichen Grundlagen für die Stilllegung von Gasnetzen grundlegend ändern werden.

Insoweit sei an dieser Stelle auf die Richtlinie (EU) 2024/1788 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juni 2024 über gemeinsame Vorschriften für die Binnenmärkte für erneuerbares Gas, Erdgas und Wasserstoff (sogenannte Gasbinnenmarktrichtlinie) hingewiesen.  
Die Gasbinnenmarktrichtlinie verpflichtet die europäischen Mitgliedstaaten unter anderem dazu, zukünftig sicherzustellen, dass Netzbetreiber Pläne für die Netzstilllegung (Stilllegungspläne) erarbeiten, wenn eine Verringerung der Erdgasnachfrage, die die Stilllegung von Erdgasnetzen oder von Teilen solcher Netze erfordert, zu erwarten ist (Art. 57 Abs. 1 S. 1 Gasbinnenmarktrichtlinie). Liegt ein Stilllegungsplan vor und wurde dieser von der zuständigen nationalen Regulierungsbehörde genehmigt, soll es den Netzbetreibern dann auch möglich sein, den Netzzugang und den Netzanschluss zu verweigern sowie bestehende Netzanschlüsse zu trennen, „um die Einhaltung der Umsetzung des Ziels der Klimaneutralität […] sicherzustellen“ (Art. 38 Abs. 4 lit. b Gasbinnenmarktrichtlinie).

Die Stilllegungspläne sollen dabei in enger Zusammenarbeit mit Wasserstoffverteilernetzbetreibern, den Stromnetzbetreibern und den Betreibern von Fernwärme- und Fernkältenetzen ausgearbeitet werden, um eine wirksame Integration der Energiesysteme zu gewährleisten und der reduzierten Nutzung von Erdgas für die Wärme- und Kälteversorgung von Gebäuden, in denen energie- und kosteneffizientere Alternativen zur Verfügung stehen, Rechnung zu tragen (Art. 57 Abs. 1 S. 2 Gasbinnenmarktrichtlinie).

Zudem kann es Netzbetreibern und Wasserstoffverteilernetzbetreibern, die in derselben Region tätig sind, gestattet werden, einen gemeinsamen Plan zu erarbeiten, falls Teile der Erdgasinfrastruktur umgewidmet werden sollen (Art. 57 Abs. 1 S. 3 Gasbinnenmarktrichtlinie). Zur inhaltlichen Gestaltung der Stilllegungspläne enthält Art. 57 Abs. 2 Gasbinnenmarktrichtlinie lediglich einige Grundsätze, die bei der Erstellung der Stilllegungspläne zu beachten sind (beispielsweise Vereinbarkeit mit der jeweiligen kommunalen Wärmeplanung, Transparenzanforderungen, Konsultationspflichten, Aktualisierungsgebot).

Schließlich sei darauf hingewiesen, dass kleinere Netzbetreiber (mit weniger als 45.000 angeschlossenen Kunden zum Stichtag des 4. August 2024) von der Pflicht zur Aufstellung von Stilllegungsplänen befreit werden können (Art. 57 Abs. 5 S. 1 Gasbinnenmarktrichtlinie), wobei diese im Falle einer geplanten Stilllegung ihrer Netze oder von Teilen dieser Netze die zuständige Regulierungsbehörde unterrichten müssen (Art. 38 Abs. 4 lit. c sowie Art. 57 Abs. 5 S. 2 Gasbinnenmarktrichtlinie). 

Fazit & Ausblick 

Mit der Umsetzung der Gasbinnenmarktrichtlinie wird es Netzbetreibern zukünftig möglich sein, jenseits des Kriteriums der wirtschaftlichen Unzumutbarkeit auf der Grundlage von Stilllegungsplänen Stilllegungen an ihren Gasnetzen vorzunehmen. Grundvoraussetzung für die Erstellung eines Stilllegungsplans wird eine zu erwartende Verringerung der Erdgasnachfrage sein. Wann eine solche gegeben sein wird, gibt die Gasbinnenmarktrichtlinie nicht vor. Es bleibt insoweit abzuwarten, wie der deutsche Gesetzgeber die Umsetzung der Gasbinnenmarktrichtlinie konkret ausgestaltet und ob damit letztlich auch tatsächlich Erleichterungen für Netzbetreiber erreicht werden. Die Richtlinie ist spätestens bis zum 5. August 2026 umzusetzen.