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Digitale Identitäten und Datenplattformen im internationalen Handel – Chancen für Unternehmen

David Peter
Von:
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Digitale Identitäten sind das neue ‚Reisepass-Paket‘ des Welthandels. Ohne sie gerät der internationale Austausch von Waren, Geld und Verträgen ins Stocken. Seit der Corona-Pandemie verlangen Behörden, Banken und Logistiker fälschungssichere Identitätsnachweise in Sekunden – und nicht mehr per Papierstapel in Tagen. Wer heute digitale Identitäten und offene Datenplattformen nutzt, verkürzt Durchlaufzeiten, senkt Kosten und gewinnt Kundenvertrauen.
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Digitale Identität ist plötzlich alles – der Wendepunkt im Welthandel

Seit der Finanzkrise verschärfen Aufsichtsbehörden ihre Vorgaben für Know-Your-Customer-Prüfungen (KYC) und Sanktionslisten. Parallel verlangen Verbraucher Transparenz über Herkunft und CO2-Fußabdruck von Produkten. Schließlich zwingt die Lieferkettengesetzgebung Firmen dazu, Verantwortung bis in die letzten Glieder der Wertschöpfung nachzuweisen. All diese Anforderungen haben eine gemeinsame Wurzel: den Bedarf an verlässlicher digitaler Identität. 

Was sind digitale Identitäten?

Technisch betrachtet, besteht eine solche Identität aus drei Bausteinen:

  1. Einem eindeutigen Identifier – bei Unternehmen ist das häufig der Legal Entity Identifier (LEI), der weltweit nur einmal vergeben wird.

  2. Verifiable Credentials, also digital signierte Nachweise wie Lizenzen oder Qualitätszertifikate.

  3. Zusätzlich braucht es eine digitale „Brieftasche“, ein Wallet, in der die Nachweise aufbewahrt und kontrolliert weitergegeben werden. 

Der Clou: Unternehmen oder Personen entscheiden, welche Informationen sie wem zeigen. Statt Kopien sensibler Registerauszüge kreist nur noch eine kryptografisch gesicherte Bestätigung – fälschungssicher und in Sekunden verifizierbar.

Damit wird ein Zollbeamter in Antwerpen künftig nicht mehr in Tokio nachfragen müssen, ob eine Exportbewilligung echt ist; er vergleicht einfach die Signatur des Credentials mit der Identität der ausstellenden Behörde und erteilt Freigabe. Auf dieser Basis werden Prozesse automatisch, Zahlungen schneller und Risiken überschaubar. 

Regulierung und Technologie liefern Rückenwind aus Brüssel und Singapur

Ein Grund, warum das Thema 2025 so rasant Fahrt aufnimmt, ist die Regulierung. Die überarbeitete eIDAS-Verordnung verpflichtet alle EU-Mitgliedstaaten, digitale Identitäten für BürgerInnen und Unternehmen bereitzustellen, die europaweit anerkannt sind. Parallel führt die European Blockchain Services Infrastructure (EBSI) eine technische Vertrauensschicht ein. Dort lassen sich Handelsregisterauszüge, Zollbewilligungen oder Ausbildungsnachweise als Self-Sovereign Identity ablegen und grenzüberschreitend prüfen.

Außerhalb der EU zeigen Länder wie Singapur, Großbritannien und jüngst auch die USA, dass sie den rechtlichen Rahmen für elektronische Frachtbriefe und handelbare digitale Dokumente bereits geschaffen haben. Das UNCITRAL-Modellgesetz für elektronische handelbare Dokumente bildet den gemeinsamen Nenner; jedes weitere Land, das es ratifiziert, vergrößert die Reichweite digitaler Prozesse.

Ob Blockchain, Tangle oder andere Distributed-Ledger-Technologien – moderne Systeme sind inzwischen skalierbar genug, um Millionen von Transaktionen pro Tag zu verarbeiten. Gleichzeitig setzen Datenräume nach dem Gaia-X-Prinzip auf föderierte Kataloge: Informationen liegen dezentral, bleiben aber auffindbar und nutzbar, wenn der Dateninhaber zustimmt. Vernetzte APIs, die ISO-20022-Nachrichten im Finanzwesen oder UN/CEFACT-Strukturen in der Logistik sprechen, erlauben es Systemen unterschiedlicher Anbieter, miteinander zu kommunizieren.

Datenplattformen bilden das Nervensystem der globalen Lieferkette

Stellen Sie sich eine Plattform vor, die Spediteure, Reedereien, Banken, Zollbehörden und Lieferanten miteinander vernetzt. Jeder Akteur bringt seine eigenen Systeme mit, aber alle einigen sich auf ein gemeinsames Trust-Framework. Das ist die Idee hinter Projekten wie TWIN – Trade Worldwide Information Network.

TWIN kombiniert dezentrale Identitäten, verifizierbare Nachweise und eine Distributed-Ledger-Technologie (IOTA), die Transaktionen manipulationssicher protokolliert. Unternehmen binden ihre ERP- oder Transportmanagement-Systeme über standardisierte Schnittstellen an; sensible Daten verlassen das eigene Rechenzentrum nicht, sondern werden nur verschlüsselt in einem Datenraum geteilt. Sobald eine Ware das Werkstor passiert, vermerkt ein Sensor-Event die Seriennummer und den Zeitstempel. Banken, die den Warenwert finanzieren, sehen den Echtzeit-Beweis der Verladung und schalten automatisch die nächste Kredittranche frei.

Die europäische Schwester-Initiative EBSI verfolgt einen ähnlichen Ansatz, allerdings mit Fokus auf behördliche Nachweise. Ein Pilot namens EBSI-VECTOR macht Handelsregisterdaten aus verschiedenen EU-Ländern gegenseitig prüfbar. Ein Investor in Irland klickt auf einen Link und erhält innerhalb von Sekunden ein verifizierbares Firmenprofil einer estnischen Gesellschaft – keine beglaubigte Kopie mehr per Kurier, kein monatelanges Warten.

Damit Datenplattformen ihr volles Potenzial ausschöpfen können, müssen sie interoperabel sein. Genau darum bemüht sich die ICC Digital Standards Initiative: Sie führt Regeln aus dem Zoll-, Finanz- und Logistikbereich zu einem Kernmodell zusammen. Unternehmen investieren also nicht in einen proprietären Standard, sondern in ein Ökosystem, das weltweit Anklang findet.

Global Trade Modernization Index (GTMI)

Der Global Trade Modernization Index (GTMI) zeigt, wie gut Länder auf digitalen Handel vorbereitet sind. Er misst Offenheit, Regulierung, Unternehmensfähigkeit und Humankapital – die vier Schlüsselbereiche für moderne, digitale Lieferketten. Ziel ist es, Fortschritte sichtbar zu machen, Austausch zu fördern und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

Quelle: GTMI Booklet

Der betriebswirtschaftliche Nutzen reicht von Effizienz bis Wachstum

Der erste spürbare Effekt digitaler Identitäten ist die Zeitersparnis. Ein elektronischer Frachtbrief kann in weniger als einer Stunde von der Reederei zum Importeur wandern, inklusive aller Genehmigungen. Früher dauerte das mehrere Tage, weil Dokumente per Kurier unterwegs waren. Rechnet man Berufs- und Standzeiten in den Häfen ein, sinkt die Umlaufdauer einer Sendung deutlich, und damit auch die Kosten für Kapitalbindung.

Hinzu kommt die Risikominimierung. Gefälschte Ursprungszeugnisse oder mehrfach abgetretene Warenkonzessionen lassen sich nicht mehr unbemerkt einschleusen, weil jede Ausfertigung digital signiert ist und ihren Ursprung offenlegt. Banken gewähren Finanzierungen zu besseren Konditionen, wenn die Echtzeit der Unterlagen automatisiert geprüft wird. Parallel erfüllen Unternehmen die Pflichten des Lieferkettengesetzes nahezu nebenbei: Die Blockchain enthält bereits alle relevanten Ereignisse, vom Abbau eines Rohstoffs bis zur finalen Montage.

Ein dritter Hebel ist das Zusatzgeschäft. Offen zugängliche Datenplattformen eröffnen Märkte, die zuvor undurchdringlich waren. Ein deutscher Mittelständler kann in einem ostafrikanischen Bieterverfahren teilnehmen, weil seine digitalen Zertifikate von dortigen Behörden akzeptiert werden. Gleichzeitig kommen neue Dienstleistungen auf: Spezialisten validieren Nachhaltigkeitsnachweise „as a Service“, Telekommunikationsanbieter bieten Identity-Gateways für IoT-Geräte, und Softwareunternehmen entwickeln KI-Module, die aus den Bruchstücken eines Lieferketten-Datensatzes präzise Nachfrageprognosen erstellen.

Nicht zuletzt stärkt der Einsatz verifizierbarer Identitäten die Markenreputation. Wer lückenlos belegen kann, dass seine Produkte weder Zwangsarbeit noch umweltschädliche Vorprozesse enthalten, positioniert sich glaubhaft als verantwortungsvoller Anbieter – ein zunehmend wichtiges Differenzierungsmerkmal.

So gelingt der Einstieg vom Pilot zum Roll-out

Die Praxis zeigt, dass Unternehmen am schnellsten vorankommen, wenn sie klein anfangen und fokussiert skalieren. Ein typischer Fahrplan besteht aus drei Schritten:

  1. Identitäts-Quick-Win: Viele Firmen registrieren zunächst einen verifizierbaren LEI. Die Umstellung erfolgt in wenigen Tagen; danachlassen sich Lieferanten oder Finanzierungspartner digital im Onboarding prüfen.

  2. Dokumenten-Digitalisierung: Als Nächstes wählt man eine Handelsspur, auf der elektronische Frachtbriefe bereits rechtsgültig sind, beispielsweise Singapur-Rotterdam. Hier lässt sich der End-to-End-Wertbeitrag unter realen Bedingungen messen.

  3. Plattform-Integrität: Schließlich wird das ERP-System via Adapter oder API-Gateway an eine offen zugängliche Handelsplattform wie TWIN angebunden. Ab diesem Zeitpunkt lassen sich weitere Handelspartner ohne nennenswerten Zusatzaufwand anbinden. 

Parallel empfiehlt es sich, früh Gespräche mit Kunden, Logistikern und Banken zu führen. Deren Bereitschaft, digitale Nachweise anzuerkennen, ist inzwischen groß; in vielen Branchen fehlen nur noch gemeinsame Pilotcases, um den letzten Zweifel auszuräumen.

Risiken realistisch einschätzen – und entschlossen handeln

Natürlich bringt eine tiefgreifende Digitalisierung Fragen mit sich: Welche Standards setzen sich durch? Wie sicher ist meine Dateninfrastruktur? Und was, wenn ein Teil der Welt weiterhin Papier bevorzugt? Solche Risiken sind real; sie werden jedoch kleiner, je früher ein Unternehmen praktische Erfahrungen sammelt. Offene Plattform-Architekturen erlauben es, mehrere Standards parallel zu unterstützen, während Zero-Trust-Sicherheitsmodelle Angriffe abwehren, ohne den Datenfluss einzuschränken. Für Staaten, die elektronische Dokumente noch nicht akzeptieren, halten Unternehmen einfach einen hybriden Prozess vor.

Die Kostenfrage stellt sich vor allem zu Beginn. Doch verschiedene Analysen zeigen: Bereits nach ein bis zwei Jahren amortisieren sich Pilotprojekte durch geringere Prozesskosten, niedrigere Fehlerquoten und schnellere Umschlagszeiten. Langfristig wiegt der Preis des Nichthandelns schwerer – denn wer in drei Jahren noch auf Papier setzt, wird in vielen digitalen Lieferketten gar nicht mehr andocken können.

Ausblick: Das Internet des Handels

Analog zum Sprung vom Fax zu E-Mail-Postfach erleben wir heute den Übergang von papiergebundenen Handelsprozessen zu einem Internet des Handels. Identitäten, Daten und Zahlungen fließen in Echtzeit; Regulatoren schaffen den Rahmen, damit digitale Dokumente dieselbe Rechtsgültigkeit besitzen wie ihr physisches Pendant. In diesem Netzwerk wird Vertrauen nicht mehr durch Stempel bestätigt, sondern kryptografisch bewiesen.

Nicht nur für TMT-Unternehmen ist das eine Chance. Sie können Infrastruktur bereitstellen, Wallets entwickeln, Datenräume moderieren oder KI-Services bauen, die aus dem neu gewonnen Datenschatz Prognosen ableiten. Andere Branchen profitieren, weil sie ihre Lieferketten verschlanken, Risiken reduzieren und ihrer Kundschaft eine Transparenz bieten, die vor wenigen Jahren unvorstellbar war.

Der entscheidende Schritt besteht darin, den Wandel nicht als reines IT-Projekt, sondern als Strategie zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit zu begreifen. Wer heute investiert, erntet morgen beschleunigte Prozesse, nachweisliche Nachhaltigkeit und einen Vertrauensvorsprung am Markt.

 

 

Der Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Louis Yves Charles Punak (Consultant) verfasst.