Shell zählt zu den weltweit größten Mineralöl- und Erdgas-Unternehmen. Wie geht der Konzern mit dem Klimawandel um? Und welche Rolle spielt aus Sicht von Shell der Wasserstoff für die volkswirtschaftliche Energieversorgung der Zukunft? Darüber und über weitere Themen haben wir mit Jörg Debus, Energy Transition Advisor bei Shell Deutschland, gesprochen.

Herr Debus, Shell bezeichnet den Klimawandel als eine der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit und will mit der „Powering Progress Strategie“ bis 2050 „Netto Null Treibhausgas-Emissionen“ erreichen. Was sind die Gründe für diese neue strategische Ausrichtung?
Seit der Veröffentlichung der Powering Progress Strategie im Februar 2021 hat Shell sich intensiv mit den diversen Stakeholdern und insbesondere mit den Investoren beschäftigt. Die Botschaft war klar. Es soll mehr getan werden. Aus diesem Grund wurden im Oktober 2021 das Ziel von Shell bis 2050 ein Energieunternehmen mit Netto Null Emissionen zu werden, um ein absolutes Emissionsreduktionsziel bis 2030 in Höhe von 50 Prozent für alle Scope 1- und Scope 2-Emissionen ergänzt, also die Emmissionen unter der operativen Kontrolle von Shell, verglichen mit dem Nettowert von 2016. Dies ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem Energiegeschäft mit Netto-Null-Emissionen. Neben den Scope 1 & 2 Emissionen gibt es die Emissionen, die beim Verbrauch der Energieprodukte bei den Kunden entstehen (Scope 3). Die Scope 1 & 2 Emissionen machen global betrachtet rund 5 Prozent der Gesamtemissionen von Shell aus. Rund 95 Prozent entstehen, wenn Kunden die Energieprodukte verbrauchen (Scope 3). Auf Shell in Deutschland bezogen beträgt dieses Verhältnis rund 10 Prozent zu 90 Prozent. Dies zeigt, wie wichtig es ist, die Kunden bei der Reduktion der Treibhausgase zu unterstützen. Um mehr CO2-arme Energie bereitzustellen und so CO2 zu reduzieren, transformiert Shell das Geschäft. Dazu gehört zum Beispiel das Laden von Elektrofahrzeugen, Wasserstoff und Strom aus Solar- und Windenergie. Damit diesem Angebot eine entsprechende Nachfrage gegenübersteht, arbeitet Shell eng mit Kunden und anderen Unternehmen zusammen. Das beinhaltet auch Sektoren, die schwer zu dekarbonisieren sind, wie Luftfahrt, Schifffahrt, Straßentransport und Industrie.

Shell und Sie selbst sind Teil des Next Mobility Accelerator Konsortiums und waren in die Entwicklung eines mittelschweren Brennstoffzellen-Lkws involviert. Welche Ziele verfolgt das Konsortium und was ist die Rolle von Ihnen und Shell dabei?
Das Next Mobility Accelerator Consortium hat sich zum Ziel gesetzt, so schnell wie möglich Wasserstoff betriebene LKWs auf den Markt zu bringen. Mit einem ganzheitlichen Konzept will das Konsortium das sogenannte Henne-Ei-Problem von Angebot und Nachfrage nach Wasserstoff-Fahrzeugen lösen. Shell liefert den „grünen“ Wasserstoff, die MaierKorduletsch-Gruppe stellt die Tankinfrastruktur sicher, die Paul Unternehmensgruppe, spezialisiert auf Lkw-Sonderbauten, rüstet die Fahrzeuge entsprechend um und sorgt für Nachfrage nach H2-Lkw und den Service. Der Prototyp wurde in 2021 auf der ITS in Hamburg und im Herbst 2022 auf der IAA in Hanover präsentiert. Shell hat 25 PH2P bestellt und die Firma Paul Nutzfahrzeuge wird die Fahrzeuge bis Ende des ersten Quartals 2023 herstellen. Im Sommer 2023 wird MaierKorduletsch die H2 Tankstelle in Passau in Betrieb nehmen. Somit können im engen Austausch aller Beteiligten, also dem Spediteur, den LKW Fahrern und Fahrerinnen, den Kunden, den Betreiberinnen und Betreibern von Tankstellen, dem Service Betrieb für die Wartung der Fahrzeuge, den H2 LKW Hersteller bis hin zum Produzenten des grünen Wasserstoff gemeinsam umfangreiche Erfahrungen sammeln, um danach einen beschleunigten breiten Markteinführung zu ermöglichen. Die Energiewende ist ein Teamsport und so versteht sich auch das Next Mobility Accelerator Consortium. Jeder bringt besondere Fähigkeiten mit, denn nur gemeinsam ist das große Ziel der Reduktion der Treibhausgase zu erreichen.

Wie schätzen sie die Marktaussichten für Wasserstoff-LKW und -Busse in den nächsten Jahren ein? In welchen Marktsegmenten sind aus Ihrer Sicht BEV (battery electric vehicle) überlegen?
Die Vorgaben aus Brüssel sind eindeutig und somit eine große Herausforderung für alle Markteilnehmer. Meiner Meinung nach stellen sich die meisten den Wechsel vom Dieselmotor zum e-Antrieb zu leicht vor. Der Vorteil vom Dieselkraftstoff ist die hohe Energiedichte, die durch über Jahrzehnte optimierte Dieselmotoren hocheffizent in Fahrleistung umgesetzt wird. Der Nachteil ist der CO2 Ausstoß bei der Energieumwandlung. Mit einem e-Antrieb aus erneuerbarem Strom kann der CO2 Ausstoß bei LKW und Bussen vermieden werden. Die große Herausforderung besteht darin, die Ladeinfrastruktur aufzubauen und ausreichend grünen Strom an die Ladesäule zu bekommen. Es gibt diverse Anwendungen, wo ein e-Antrieb sehr viel Sinn macht. Die e-Fahrzeuge werden zeitnah auf dem Markt kommen, allerdings muss der Anwender die Fahrzeuge auch so laden können, dass es in den Tagesablauf passt und die Netze nicht überlastet werden. Neben den batterieelektrischen LKWs und Bussen wird es einen Bedarf für Fahrzeuge mit einem Wasserstoffantrieb geben. Anstatt erneuerbaren Strom in einer Batterie zu speichern, wird die Energie im Wasserstofftank gespeichert und ist somit unabhängig von den Stromnetzen transportierbar und vor allem gut speicherbar. Umwandlung von Energie führt immer zu Wirkungsgradverlusten und somit gibt es Vorbehalte gegenüber Wasserstoff in der Mobilität. Wie wir leider gerade erleben müssen, ist die Fähigkeit Energie zu speichern essentiell. Wasserstoff kann beziehungsweise muss diesbezüglich in der Zukunft eine bedeutende Rolle zukommen. Überall wo die Betankung, beziehungsweise das Laden zeitkritisch ist, hat Wasserstoff einen klaren Vorteil. Die Betankung dauert ähnlich lange wie eine Diesel Betankung. Der Ladevorgang von LKWs dauert selbst bei Fast Charging Stunden, wenn eine heute übliche Reichweit angestrebt wird. Welche Marktsegmente final eher Strom oder Wasserstoff nutzen werden, definiert der Kunde. Ich persönlich sehe deutliche Vorteile für den Einsatz von Wasserstoff. Es ist keine Frage von entweder oder. Wir benötigen jede Energielösung, die dazu beiträgt, die Treibhausgase zu reduzieren.

Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht Wasserstoff für die volkswirtschaftliche Energieversorgung der Zukunft?
Energie und Rohstoffe waren immer wichtig für Volkswirtschaften. In der Wahrnehmung der breiten Bevölkerung (zumindest in Deutschland) gab es in den letzten Jahrzehnten keinerlei Einschränkungen und somit den Glauben, der Zugang zu Rohstoffen und Energie sei nicht wichtig. Durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine realisieren wieder mehr Menschen, dass große Volkswirtschaften wie Deutschland ohne eine gesicherte Energie- und Rohstoffversorgung den Wohlstand nicht halten können. Kurz nach der ersten Ölkrise in 1978 wurde der Erdölbevorratungsverband gegründet. Wie viele andere Länder auch hat Deutschland ein Erdölbevorratungsgesetz, es schreibt vor, für 90 Tage Energie in Form von Rohöl, Diesel, Benzin, Heizöl bzw. Flugbenzin vorzuhalten. Deutschland erfüllt diese Vorgaben seitdem immer sehr gut. Interessanterweise gibt es keine Vorgaben für Erdgas. Hier war die Annahme, dass Putin die Gasleitung nicht zudrehen wird. Die gute Nachricht ist, Deutschland hat geologisch sehr gute Voraussetzungen, Gase zu speichern. Das wird auch in Hinblick auf die vor uns liegende Wasserstoffwirtschaft wichtig. Aufgrund der geografischen Lage mitten in Europa mit einem bereits gut ausgebauten und erweiterbaren Gaspipelinenetz sowie einigen Seehäfen ergeben sich attraktive Möglichkeiten für Deutschland in einer globalen Wasserstoffwirtschaft.

Wo steht Deutschland beim Thema Wasserstoff im internationalen Vergleich?
Deutschland hat nach wie vor eine große Innovationskraft und da macht Wasserstoff keine Ausnahme. Seit Jahrzehnten wird intensiv im Bereich Wasserstoff geforscht und entwickelt. Aktuell hat Deutschland mit ca. 100 Stationen eines der größten Tanknetze für Wasserstoff PKWs. Im Gegensatz zu Südkorea und Japan gibt es bisher keine serienreifen Wasserstoff PKWs von deutschen Automobilherstellern. PKWs können auch rein batterieelektrisch betrieben werden, bei LKWs und Bussen sehe ich das deutlich anders. In den zahlreichen Gesprächen mit führenden OEMs bin ich über die Fähigkeiten einiger namhafter deutscher Hersteller begeistert. Mit Sorgen beobachte ich, dass aufgrund großer bürokratischer Hürden diese hochinnovativen Produkte wohl eher in Asien und Nordamerika zum Einsatz kommen als im Heimatmarkt. Das gilt für die H2 Brennstoffzellen Technologie, H2 Verbrennungsmotoren und auch für Elektrolyseure. Alle Firmen, mit denen ich spreche, fühlen sich dem Pariser Klimaabkommen verpflichtet. Um schneller voranzukommen, sehe ich Tendenzen, den Fokus auf den Heimatmarkt zu reduzieren. Als größte europäische Volkswirtschaft sollte Deutschland sich darauf konzentrieren es besser zu machen, als es nur besser zu wissen.

Wo sehen Sie die größten Chancen für den Einsatz von grünem Wasserstoff?
Grüner Wasserstoff bietet die Möglichkeit, erneuerbaren Strom zu speichern und damit unabhängig vom Stromnetz zu transportieren. Verbunden mit der sehr hohen Energiedichte macht das den grünen Wasserstoff zu einer idealen Energie für den Straßengüterverkehr, wo aufgrund der engen Zeitpläne und den Mangel an Fahrerinnen und Fahrern jede Minute bei der Betankung zählt. Überall dort, wo das Stromnetz den notwendigen Strombedarf nicht leisten kann, ist Wasserstoff ebenfalls eine attraktive Alternative. Wasserstoff ist bereits heute ein bedeutender Rohstoff in der chemischen Industrie. Ein Wechsel von grauen auf grünen Wasserstoff kann im großen Umfang die CO2 Emmisionen reduzieren. Rein technisch betrachtet gibt es zahlreiche Anwendungsfelder. Hierbei muss allerdings die Verfügbarkeit und Bezahlbarkeit beachtet werden. Subventionen sind notwendig, um die Wasserstoffwirtschaft aufzubauen. Im langen Rennen muss die Wasserstoffwirtschaft ohne staatliche Förderung funktionieren.

In welchen Bereichen der Wasserstoff-Wertschöpfungskette ist Shell aktiv und welche Projekte gibt es aktuell?
Shell ist seit über 20 Jahren sehr aktiv entlang der gesamten Wasserstoff-Wertschöpfungskette. In der Energiewirtschaft ist es wichtig, alle Elemente einer Wertschöpfungskette zu verstehen. Danach wird definiert, welche Elemente ein Energieunternehmen besonders gut kann und selber macht, zukauft oder einfach anderen Partnern überlässt, die den Teil besser können. Dies hängt auch immer von den lokalen Rahmenbedingungen ab. So investiert Shell zum Beispiel in der holländischen Nordsee einen Off-Shore Windpark, da es unter anderem umfangreiche Erfahrungen beim Betrieb von Off-Shore Anlagen gibt. Damit hat Shell Zugang zu erneuerbarem Strom. Teile der Produktion werden in eigenen Elektrolyseuren in grünen Wasserstoff konvertiert. Die Elektrolyseure lässt Shell von namhaften Kontraktoren bauen und betreibt die Elektrolyseure als Operator. Als einer der größten Energieversorger hat Shell umfangreiches Knowhow bei Lagerung, Abfüllung und Transport. Dieses Wissen wird genutzt, um Verladeeinheiten für Wasserstoff zu betreiben, um die eigenen Wasserstofftankstellen zu versorgen. Das heißt in der Wertschöpfungskette von der Erzeugung des grünen Stroms bis zur Belieferung unserer Kunden an den Tankstellen wird Shell wie beim aktuellen Energiemix im Wasserstoffgeschäft tätig sein. Bei der Entwicklung von Wasserstofffahrzeugen nutzen wir die langjährige enge Zusammenarbeit mit den führenden Herstellern, um die Markteinführung zu beschleunigen. LKWs selber bauen ist kein Kerngeschäft von Shell und somit wird Shell keine LKWs selber bauen. Anders ist das beim Aufbau einer internationalen Wasserstoffversorgung, wo Shell bereits heute sehr aktiv ist.

Welche Hürden sehen Sie bei der Umsetzung von Wasserstoff-Projekten?
Eines der großen Hindernisse bei der Einführung einer neuen oder anderen Energieform ist das „Henne-Ei-Problem“. Wenn die Markteinführung schnell und breit funktionieren soll, muss sie „orchestriert“ werden. In Ländern wie China gibt es dafür einen Plan und somit wundert es nicht, dass die Markteinführung dort rasch vorankommt. Aus diversen Gründen haben wir in Deutschland und Europa einen anderen Ansatz. Bei verlässlichen Rahmenbedingen kann ein technologieoffener marktwirtschaftlicher Ansatz erfolgreich(er) sein. Häufig stecken wir noch im Austausch von ideologisch geprägten Glaubensbekenntissen fest, anstatt uns voll und ganz auf das große gemeinsame Ziel zu fokussieren – der Reduktion der Treibhausgase. Eine enge vertrauensvolle Zusammenarbeit über die etablierten Ebenen hinweg ist möglich und kann schneller die gewünschten Ergebnisse liefern. Es ist der wichtige Übergang vom Reden zum Machen. Allerdings stellen wir gerade fest, dass uns dann die zahlreichen Versäumnisse der Vergangenheit begegnen. Dazu gehört zum Beispiel der kritische Punkt des Fachkräftemangels, also die Frage, wo die Menschen mit den benötigten Fähigkeiten sind“.

Die bisherigen grünen Elektrolyse-Fertigungskapazitäten werden für eine umfassende Nutzung von Wasserstoff bei weitem nicht ausreichen. Wo können zusätzliche Kapazitäten mit hoher Effizienz geschaffen werden?
Grüner Wasserstoff benötigt große Mengen an erneuerbarem Strom, womit die Regionen interessant sind, wo dieser kostengünstig produziert werden kann. Ein weiteres wichtiges Element sind die Transportkosten, wobei noch einige technische Herausforderungen zu meistern sind. Insofern werden zahlreichen Alternativen geprüft und teils bereits entwickelt. Unabhängig davon gilt es zu berücksichtigen, dass Deutschland ein Nettoimporteur für Energie ist und bleiben wird. Wasserstoff kann und muss ein Teil der Lösung für eine nachhaltige Energieversorgung sein.

Vielen Dank für das Gespräch.