Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat sich zum sogenannten Straferwerb bei irrig beurteilten Reihengeschäften geäußert. Was das Urteil für die Praxis bedeutet.

Lieferungen in andere EU-Mitgliedstaaten sind als innergemeinschaftliche Lieferungen von der Umsatzsteuer des Abgangslandes befreit. Stattdessen muss der Erwerber im Bestimmungsland nach den dortigen Regeln einen korrespondierenden innergemeinschaftlichen Erwerb der Ware versteuern.

Der innergemeinschaftliche Erwerb gilt grundsätzlich in dem Mitgliedstaat bewirkt, in dem sich die Ware am Ende ihrer Beförderung oder Versendung befindet. Allerdings muss der Erwerber zusätzlich einen weiteren innergemeinschaftlichen Erwerb derselben Ware in noch einem anderen Mitgliedstaat versteuern, wenn er gegenüber dem Lieferer eine von diesem anderen Mitgliedstaat erteilte Umsatzsteuer-Identifikationsnummer (USt-IdNr.) verwendet hat (in Deutschland siehe § 3d Satz 2 UStG). Dieser sogenannte „Straferwerb“ dient der Vermeidung von Steuerausfällen, weil nur durch die verwendete USt-IdNr. nachverfolgt werden kann, ob tatsächlich eine Erwerbsbesteuerung durch den Erwerber vorgenommen wurde. Ein Vorsteuerabzug aus diesem Straferwerb ist nicht möglich, weil die Besteuerung im richtigen Mitgliedstaat vorgenommen werden soll. Erst wenn die Besteuerung im tatsächlichen Bestimmungsland der Ware nachgewiesen ist, entfällt der Straferwerb in dem anderen Mitgliedstaat.

Der EuGH hat sich in seinem Urteil vom 7. Juli 2022 (Rechtssache C-696/20, Rs. Dyrektor Izby Skarbowej w) hinsichtlich eines Sachverhalts aus dem Jahr 2021 (vor Einführung der sogenannten Quick Fixes) mit der Frage befasst, ob ein Straferwerb auch dann zur Anwendung kommt, wenn die vom Erwerber verwendete USt-IdNr. aus dem Land des Beginns der Beförderung / Versendung stammt. Diese Frage stellte sich zum einen, weil in diesem Sachverhalt der Straferwerb zu einer doppelten Belastung mit Umsatzsteuer führte.

Dem Urteil liegen irrig beurteilte Reihengeschäfte zwischen dem Lieferer A aus Polen, dem Zwischenhändler aus den Niederlanden und einem in einem anderen EU-Mitgliedstaat umsatzsteuerlich registrierten Abnehmer C zu Grunde. Die Finanzverwaltung stellte fest, dass die erste Lieferung in dieser Lieferkette dem Grunde nach die (einzige) steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferung sei. Da die Parteien abweichend von einer steuerpflichtigen Lieferung in Polen ausgegangen waren, hatte der Zwischenhändler B gegenüber dem Lieferer A seine polnische USt-IDNr. verwendet.

Aus jener Lieferung wurde dem Zwischenhändler B der Vorsteuerabzug versagt, weil die Lieferung steuerfrei hätte sein sollen. Aufgrund der Verwendung seiner polnischen USt-IdNr. wurde zusätzlich auch der Straferwerb ohne Vorsteuerabzug in Polen gegen B festgesetzt. Im Ergebnis resultierte für B eine Umsatzsteuerlast von 46 Prozent in Polen.

In seinem Urteil stellte der EuGH zunächst klar, dass ein Straferwerb auch dann Anwendung finden kann, wenn die vom Erwerber verwendete USt-IdNr. aus dem Abgangsland (hier: Polen) stammt. Hierfür sprächen Wortlaut und Sinn der Regelung. Im Ergebnis lehnt der EuGH im vorliegenden Fall jedoch die Anwendung des Straferwerbes ab, da es – mangels Abziehbarkeit der Vorsteuer aus der von A getätigten steuerpflichtigen innergemeinschaftlichen Lieferung - für B insoweit bereits zu einer Belastung mit Umsatzsteuer komme. Da der Lieferer A nach nationalem Recht weiter zur Erhebung der polnischen Umsatzsteuer verpflichtet und B keinen Vorsteuerabzug geltend machen könne, würde die eigentlich steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung mit polnischer Umsatzsteuer belastet. Eine zusätzliche Belastung durch einen Straferwerb stünde nach Ansicht des EuGH nicht mit den übergeordneten Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der umsatzsteuerlichen Neutralität im Einklang, zumal durch die Besteuerung der innergemeinschaftlichen Lieferungen ein Steuerausfall in Polen ausgeschlossen sei.

Praxishinweis

Auch wenn das Urteil den Anwendungsbereich des Straferwerbs im Lichte der Neutralität der Umsatzsteuer auf den ersten Blick einschränkt, stellt sich die Frage nach der Übertragbarkeit auf nationales Recht zum Rechtsstand seit dem 1. Januar 2020 (Einführung der sogenannten Quick Fixes). Der EuGH hat im Urteil offengelassen, ob Verwendung einer USt-ID-Nr. des Bestimmungslandes nach den Quick Fixes als materiell-rechtliche Voraussetzung für die innergemeinschaftliche Lieferung zu betrachten ist. Sollte dies der Fall sein und ein Vorsteuerabzug aus mangels passender USt-IDNr. steuerpflichtig abgerechneten innergemeinschaftlichen Lieferungen möglich sein (so derzeit die Ansicht des Bundesfinanzministeriums), dann würde in einem gleichartigen Fall keine doppelte Belastung mit Umsatzsteuer resultieren. Andernfalls stellte sich die Frage nach Korrekturmöglichkeiten vor einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. In jedem Fall zeigt das Urteil aus praktischer Sicht die weitreichenden Folgen der fehlerhaften Einordnung von grenzüberschreitenden Reihengeschäften auf. Es bleibt unabdingbar, Reihengeschäfte auf ihre umsatzsteuerlichen Implikationen zu untersuchen, um Straferwerbe oder unerwünschte Registrierungsverpflichtungen zu vermeiden. Ob die Finanzverwaltung in dem erwarteten BMF-Schreiben zur Neuregelung der Reihengeschäfte näher auf diese Fragestellungen eingeht, bleibt abzuwarten.