Der Europäische Gerichtshof (EUGH) hat am 23. Februar 2023 sein Urteil in der Rechtssache Fenix International Ltd verkündet. Der Streitfall aus dem Vereinigten Königreich (UK) betraf die umsatzsteuerlichen Verpflichtungen des Unternehmens Fenix International Ltd. (im Folgenden: Fenix), einem Softwareanbieter, der die Online-Plattform OnlyFans betreibt. Das Urteil hat Auswirkungen auf die Anwendung des deutschen Umsatzsteuerrechts in Bezug auf den Verkauf von elektronischen Dienstleistungen über Online-Plattformen.
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Hintergrund

Im Jahr 2015 führte die EU Änderungen der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL) und ihrer Durchführungsverordnung (MwStVO) ein, die unter anderem 

1.    eine einheitliche Definition von elektronischen Dienstleistungen vorsehen, sowie
2.    neue Regeln für die Umsatzbesteuerung im Falle der Erbringung von elektronischen Dienstleistungen zu Grunde legen.

Zu dieser Zeit war das Konzept digitaler Vertriebsplattformen bereits etabliert, und eine beträchtliche Anzahl elektronischer Dienste wurde über solche Plattformen verkauft. Beispiele sind der App Store von Apple und der Play Store von Google. Diese Arten von Online-Plattformen zeichnen sich dadurch aus, dass Anbieter ihre elektronischen Dienstleistungen vergleichsweise einfach dem jeweiligen Nutzer zum Verkauf anbieten können. In der Regel werden derartige Leistungen an Privatpersonen erbracht. Die Online-Plattformen erzielen ihre Einnahmen in der Regel durch Provisionen, die sich aus einem Prozentsatz des Verkaufspreises der über die Plattform angebotenen Leistung speisen.

Verkäufe elektronischer Dienstleistungen an private Kunden über Online-Plattformen durch kleine Anbieter haben die Tendenz, nicht (vollständig) gemeldet zu werden. Jene Art von Transaktionen ist aus Sicht der Steuerbehörden schwer zu überwachen. Um die Nichtmeldung ebenjener Umsätze zu verhindern, hat die EU eine Leistungsfiktion eingeführt, nach der die Online-Plattform als Erbringer der an den Endkunden verkauften elektronischen Dienstleistung gilt (vgl. Artikel 9a MwStVO in Verbindung mit Artikel 28 MwStSystRL, in Deutschland umgesetzt in § 3 Absatz 11a UStG).

Eine vereinfachte Darstellung dieser Fiktion sieht so aus:

Quelle: Grant Thornton Germany

Die Leistungsfiktion hat zur Folge, dass die umsatzsteuerliche Meldepflicht und damit (potenzielle) einhergehende Zahlungsverpflichtungen von den einzelnen Anbietern auf die Online-Plattform selbst übergehen. Dies bedeutet, dass Online-Plattformen verpflichtet sind, die Umsatzsteuer auf den gesamten Preis der elektronischen Dienstleistung auszuweisen, nicht nur auf die dem zugrundeliegenden Anbieter berechnete Provision. Im Gegenzug wird davon ausgegangen, dass der zugrundeliegende Anbieter dieselbe Dienstleistung an die Online-Plattform selbst verkauft; der Preis dieser Dienstleistung ist der vom Verbraucher gezahlte Endpreis abzüglich der von der Online-Plattform erhobenen Provision. Für die digitale Vertriebsplattform bedeutet dies aufgrund der besonderen Vorschriften über den Ort der Erbringung von elektronischen Dienstleistungen in B2C-Fällen auch, dass in jedem Land, in dem ein Endkunde seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, zusätzliche umsatzsteuerlichen Verpflichtungen entstehen können.

Die vorgenannte Leistungsfiktion, durch die sich die Meldepflicht auf die Plattform verlagert, kann durchbrochen werden. Allerdings ist dies nur in den Fällen möglich, in denen der zugrundeliegende Anbieter von der Online-Plattform ausdrücklich als Erbringer der elektronischen Dienstleistung angegeben wird, und wenn dies in den vertraglichen Vereinbarungen zwischen den Parteien zum Ausdruck kommt. Wie sich zeigen wird, kann es angesichts der Art und Weise, wie digitale Vertriebsplattformen derzeit betrieben werden, schwierig sein, diese Fiktion zu durchbrechen.

Sachverhalt

OnlyFans ist eine Online-Plattform, auf der die Anbieter von Inhalten den Verbrauchern elektronische Dienste wie Fotos und Videos anbieten. Fenix vermarktet OnlyFans selbst und erbringt damit verbundene Dienstleistungen für die Anbieter von Inhalten, wie zum Beispiel das Zahlungssystem. Die Endkunden zahlen entweder über Abonnements oder Einmalzahlungen. Fenix erhält als Provision grundsätzlich 20 Prozent des Preises, den der Endkunde leistet. Fenix leitet den Rest der Zahlung an den Ersteller von Inhalten (= Anbieter) weiter.

Im Jahr 2020 erließ die britische Steuerbehörde (HMRC) gegenüber Fenix Bescheide über Umsatzsteuer. Das HMRC war der Ansicht, dass Fenix auf den gesamten Verkaufspreis, den die Anbieter von Inhalten auf der Online-Plattform in Rechnung stellten, Umsatzsteuer hätte ausweisen müssen. Im Wesentlichen argumentierte die britische Steuerbehörde, dass die oben beschriebene Leistungsfiktion in diesem Fall anwendbar sei - was Fenix zum fiktiven Dienstleister der elektronischen Dienstleistungen machen würde und damit für den Ausweis der Umsatzsteuer auf den gesamten, von den Endkunden gezahlten Beträgen verantwortlich wäre. Fenix hingegen hatte nur die Umsatzsteuer auf die Provisionen ausgewiesen, die sie den einzelnen Anbietern in Rechnung stellte, da sie ihrer Ansicht nach nur eine Vermittlungsleistung im fremden Namen und auf fremde Rechnung gegenüber den Anbietern erbrachten, die die OnlyFans-Plattform nutzten.

Vor dem britischen Gericht argumentierte Fenix ferner, dass die Anwendung einer solchen Leistungsfiktion gegen die der EU übertragenen Befugnisse verstößt. Das nationale Gericht beschloss, das Verfahren auszusetzen und die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Fiktion dem EuGH vorzulegen.

Urteil des EuGH

Zusammengefasst entschied der EuGH, dass die Leistungsfiktion in Artikel 9a MwStVO nicht gegen das EU-Recht verstößt. Da die Fiktion in diesem Fall nicht gebrochen wurde, habe das HMRC Fenix zu Recht als den Erbringer der an die Endkunden verkauften elektronischen Dienstleistungen angesehen. Dies bedeutet auch, dass die Anbieter als Lieferanten ihrer elektronischen Dienstleistungen gegenüber Fenix und nicht an die Endkunden angesehen werden. Dies stellt eine wesentliche Änderung dar, da die Besteuerung elektronischer Dienstleistungen bei B2B- und B2C-Transaktionen unterschiedlich ist. Infolgedessen ergeben sich verschiedene Folgefragen wie der Sitz des Anbieters und die Frage, ob er überhaupt für die Umsatzsteuer registriert werden muss. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Urteil für Fenix zu beträchtlichen umsatzsteuerlichen Verpflichtungen führt, wohingegen den Anbietern gegebenenfalls potenzielle Umsatzsteuer-Erstattungen zustehen könnten.

In der Begründung des Urteils stellt der EuGH klar, dass die Fiktion bezüglich der Besteuerung von elektronischen Dienstleistungen, die über Online-Plattformen verkauft werden, lediglich eine Umsetzung bereits bestehender Vorschriften ist. Insbesondere erwähnt der EuGH Folgendes in Bezug auf die vertragliche Beziehung zwischen der digitalen Vertriebsplattform und dem zugrundeliegenden Anbieter: 

„Wenn es einem Steuerpflichtigen, der sich an der Erbringung einer elektronischen Dienstleistung beteiligt, indem er beispielsweise eine Online-Plattform für ein soziales Netzwerk betreibt, gestattet ist, die Erbringung der Dienstleistungen zu genehmigen oder ihre Abrechnung zu autorisieren oder auch die allgemeinen Bedingungen ihrer Erbringung festzulegen, hat er nämlich die Möglichkeit, einseitig wesentliche Gesichtspunkte im Zusammenhang mit der Dienstleistung festzulegen, und zwar ihre Durchführung und den Zeitpunkt, zu dem sie stattfindet, oder die Bedingungen, unter denen die Gegenleistung fällig wird, oder auch die Regeln, die den allgemeinen Rahmen für diese Dienstleistung bilden. Unter diesen Umständen und in Anbetracht der wirtschaftlichen und geschäftlichen Realität, die sich in ihnen widerspiegelt, ist der Steuerpflichtige als Dienstleistungserbringer im Sinne von Art. 28 der Mehrwertsteuerrichtlinie anzusehen.“

Praxishinweise

Das vorliegende Urteil schafft zusätzliche Klarheit bei der umsatzsteuerlichen Behandlung von elektronischen Dienstleistungen, die über digitale Vertriebsplattformen erbracht werden. Angesichts der Art und Weise, wie digitale Vertriebsplattformen derzeit betrieben werden, sind die umsatzsteuerlichen Auswirkungen für die Betreiber jedoch voraussichtlich nicht positiv. Die Merkmale, die digitale Vertriebsplattformen so erfolgreich machen: Zugänglichkeit, Sicherheit und Benutzerfreundlichkeit für die Endkunden - Faktoren, die ihnen das Gefühl geben, mit einer großen Online-Plattform zu interagieren und nicht mit kleinen einzelnen Anbietern - werden wahrscheinlich auch dazu führen, dass digitale Vertriebsplattformen in größerem Umfang als Anbieter der auf ihren Plattformen verkauften elektronischen Dienstleistungen und nicht nur als Vermittler angesehen werden.

Viele digitale Vertriebsplattformen dürften bereits so eingerichtet sein, dass sie mit der Fiktionsregelung und den Vorschriften für "fiktive Lieferanten" konform sind; einige bieten dies sogar als Vorteil für die zugrundeliegenden Anbieter an, die so komplizierte Meldepflichten oder zusätzliche Registrierungsanforderungen vermeiden können. 

Unternehmen, die Online-Plattformen betreiben, auf denen Dienstleistungen angeboten werden, sollten ihre umsatzsteuerlichen Prozesse in Bezug auf die oben dargestellte Rechtsprechung überprüfen, um Risiken zu vermindern.

Diese Thematik wird begleitet von den seit dem 1. Januar 2023 bestehenden Meldepflichten nach dem Plattformen-Steuertransparenzgesetz (PStTG).